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Sonntag, 4. Dezember 2011

Einzelhandel Herbede - Zwei Gutachten, zwei Welten

Die beiden Gutachten zur Situation des Einzelhandels in Herbede von 2007 und 2011 (Quellenangaben s. unten) zeigen wesentliche Übereinstimmungen und wesentliche Unterschiede. Beide bescheinigen Herbede jedoch Stabilität und Vitalität, kommen aber zu unterschiedlichen Aussagen bezüglich der Zukunft Herbedes.

Die Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung (GMA) hob 2007 die Dominanz kleinflächiger Betriebe in Herbede hervor, deren Verkaufsfläche unterhalb des Wittener Durchschnitts lag, bestätigte aber dennoch eine positive Entwicklung des Herbeder Einzelhandels im Hinblick auf Betriebe, Verkaufsflächen und Umsatztätigkeit und eine geringe Leerstandsquote (2 %).
Aber die GMA zog daraus nicht den Schluss, dass die relativ kleinen Flächen ein Ausdruck von Vielfalt und Individualität und deshalb für einen Stadtteil wie Herbede durchaus „marktgerecht“ sein können, sondern sie vertrat die Auffassung, dass „Impulse für eine Stabilisierung, ggf. auch einen Bedeutungsausbau des Herberder Versorgungszentrums“ durch Erweiterungen / Verlagerungen der Lebensmittelbetriebe gesetzt werden müssten, da deren „mittelfristiger Erhalt aus GMA-Sicht eine Anpassung an branchenübliche Dimensionierungen und Konzepte erfordert“(GMA, S. 265).

Diese Schlussfolgerung ist höchst erstaunlich, weil sie so gar nicht der Realität in Herbede entspricht: Wer legt denn die "branchenüblichen Dimensionierungen und Konzepte" fest? Was bedeutet "branchenüblich"?
„Branchenübliche Dimensionierungen und Konzepte“ sind jedenfalls nicht identisch mit Angebot und Nachfrage, von denen wir annehmen, dass sie den Markt bestimmen. Sie sind NICHT  das Ergebnis eines mehr oder weniger gleichgewichtigen Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage (von und nach einem Gut), sondern die Vorstellung von einer angeblich „branchenüblichen Dimensionierung“ folgt einem neoklassischen Theoriemodell, das außer den Nutzen der Haushalte auch die Maximierung des Gewinns der Unternehmen als „Nachfrage“ im Auge hat.
Dieses Theoriemodell erweist sich für  Prognosen im Herbeder Einzelhandel offenbar als wenig tauglich: Die Nachfrage der 3.500 Einwohner, die im Umkreis von 500 m Entfernung zum Zentrum leben, oder der etwa 14.000 Einwohner im gesamten Stadtteil Herbede, sind mit den Bestrebungen eines Lebensmittelkonzerns zur Gewinnmaximierung offenbar nicht in Einklang zu bringen.
Wie denn auch? Die Edeka-Gruppe konnte im Geschäftsjahr 2010 einen Umsatz im Lebensmitteleinzelhandel von 39,1 Mrd. Euro vermelden (Edeka, Zahlen und Fakten 2010) und die  „branchenübliche Dimensionierung“ wird nicht vom ortsansässigen Edeka-Kaufmann, mit dem man sich sicher einigen könnte, sondern von der Konzernzentrale in Hamburg festgelegt.
Es mag bezeichnend sein, dass die GMA nicht auf den erstaunlichen Widerspruch eingeht, dass es zwischen 1997 und 2007 eine positive Entwicklung in Herbede gegeben hat, obwohl (oder weil?) kein großflächiger Supermarkt angesiedelt werden konnte. Die Ansiedlung wurde 2004 durch ein Bürgerbegehren verhindert. Eigentlich hätte dies, nach der Theorie, zu einem erheblichen, untypischen Kaufkraftabfluss führen müssen, aber selbst 2011 ist festzustellen, dass dies nicht der Fall ist: „Das Nebenzentrum Herbede hat sich mit - weiter zu beobachtenden - Schwankungen im Wittener Vergleich als einziges Nebenzentrum sowohl hinsichtlich Verkaufsflächenausstattung als auch in der Betriebsanzahl stabil gezeigt.“ (Stadt+Handel, S. 27)

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Die wichtige Erkenntnis daraus ist für Stadt+Handel: 
"Während in anderen Zentren in Witten in den letzten 15 Jahren „in mehreren Fällen (insbesondere) Ansiedlungen von Anbietern von Nahrungs- und Genussmitteln“ erfolgt sind und zu steigenden Verkaufsflächensummen geführt haben, ist in sämtlichen vergleichbaren Zentren demgegenüber ein - teils erheblicher – Rückgang von Einzelhandelsbetrieben zu verzeichnen". (Stadt+Handel, S.27)
Wenn KEINE Ansiedlung im Gerberviertel erfolgt, wird ein anderer Lebensmittelvollsortimenter, der den Standort in der Meesmannstraße anders bewertet als Edeka, bestimmt gerne den Standort von Edeka übernehmen. Selbst dann, wenn alle Lebensmittelkonzerne ihrer Verpflichtung gegenüber den Bürgern nicht mehr nachkommen können oder wollen, wie dies bereits zu beobachten ist, gibt es Lösungen:  Es gibt inzwischen zahlreiche Beispiele dafür, dass die Versorgung mit Lebensmitteln sogar in Eigenregie erfolgen kann. Niemand muss sich unter Druck setzen lassen.

Die neu hinzu gekommenen Leerstände kann der Stadtteil nach Ansicht von Stadt+Handel verkraften. Die positive Entwicklung in Herbede und die Sicherheit, dass kein großflächiger Lebenseinzelhandelsbetrieb im Gerberviertel oder an anderer Stelle außerhalb des Zentrums errichtet wird, könnte meiner Meinung nach dem Stadtteil einen Auftrieb verschaffen und Interessenten davon überzeugen, dass es für individuelle, kleine Fachgeschäfte Zukunfstchancen in einem Stadtteil gibt, in dem sich Bürger und Kaufleute derart entschieden für den Erhalt ihres Zentrums einsetzen, wie dies in Herbede geschieht.

Das Gutachterbüro Stadt+Handel warnt allerdings die Kaufleute und Immobilieneigentümer davor, untätig zu bleiben. Sowohl das Gutachterbüro, der Einzelhandelsverband und die Industrie- und Handelskammer wollen die Herbeder Kaufleute unterstützen. Allein die Zusage der Stadt steht noch aus.