Nun sitzt Witten in Bezug auf Bertelsmann eigentlich an der Quelle: Bertelsmann ist seit langem Partner und Förderer der Universität Witten/Herdecke und seit 2010 auch Förderer des Reinhard-Mohn-Instituts für Unternehmensführung und Corporate Governance. Anfang 2012 haben 20 Studierende der Wirtschaftswissenschaften der Universität Witten/Herdecke an einem zweitägigen Seminar zum Thema “Innovation in Gesellschaft und Unternehmen” in der Gütersloher Konzernzentrale teilgenommen, und Witten nennt sich selbst "Witten - die Universitätsstadt an der Ruhr".
Gute Ausgangsbedingungen für das Thema Partizipation, sollte man meinen. Aber wie läuft es in Witten wirklich?
Bürgerbegehren 2003/2004
Bürgerbeteiligung wäre im Stadtteil Witten-Herbede bereits 2003 möglich gewesen, als es um die Frage der Ansiedlung eines großflächigen Lebensmittelsupermarkts ging. Bürger und Geschäftsleute hatten 2003 in mehreren Gesprächen mit der Verwaltung darum gebeten, gemeinsam über die zukünftige Nutzung und die Entwicklungsperspektiven der Meesmannstraße zu beraten.Auf diese Bitte folgte - die Ausschreibung des städtischen Grundstücks durch die Verwaltung. Es sollten Fakten geschaffen werden, ohne Diskussion. Damals bot Lidl einen extrem hohen Kaufbetrag und sollte den Zuschlag erhalten.
Nur durch ein Bürgerbegehren konnte die Stadt Anfang 2004 dazu gezwungen werden, ihren Plan aufzugeben.
Bürgerbeteiligung 2005-2007
Die Verwaltung setzte nach der Erfahrung mit dem Bürgerbegehren auf Kooperation mit den Bürgern. In mehreren Workshops und Bürgerversammlungen mit bis zu 150 Teilnehmern, zu denen die Verwaltung eingeladen hatte, konnte sie sich überzeugen, dass in Herbede Einigkeit in der Frage bestand, im Gerberviertel keinen großflächigen Lebensmitteleinzelhandel anzusiedeln.Der Workshop 2005 führte, unter der Leitung eines Mediators/Moderators, Jens Stachowitz, zu einem Konsens. Das Protokoll kann leider nur auf der Homepage des Bürgerkreises herunter geladen werden, auf der Homepage der Stadt wurde es nach kurzer Zeit wieder entfernt. (Grundlagen der Rahmenplanung« für den ehemaligen Güterbahnhof Witten-Herbede und seine Umgebung, Dokumentation des Workshops am 8. Jan. 2005)
Nun mag man einwenden, 2005 sei lange her und bis heute habe sich vieles geändert, wie dies der eine oder andere unserer Leser sieht. Ja, das stimmt. Während die Verwaltung ihre alten Pläne, Ansiedlung eines großflächigen Lebensmittelsupermarktes, die aus dem letzten Jahrhundert stammen, nicht aufgegeben hat, hat sich insbesondere der Bürgerkreis mit neueren Trends auseinander gesetzt. Im Bürgerkreis arbeiten Stadt- und Raumplaner mit, die über Informationen aus erster Hand verfügen und sie für Herbede entsprechend verwerten können.
Die Entwicklung im Einzelhandel zeigt nach den Erfahrungen der letzten Jahre deutlich die Nachteile, die große, komprimierte Verkaufsflächen für die Entwicklung und Lebensqualität von Städten und Stadtteilen haben. Die Notwendigkeit, Zentren zu stärken, fand sogar in entsprechenden Gesetzen Eingang.
Wie komplex die Problematik eines Stadtteilzentrums ist, ist seit einigen Jahren zunehmend Gegenstand unterschiedlicher Konzeptionen, von denen das der "integrierten Stadtentwicklung" überzeugend und für Herbede richtig zu sein scheint. Der Ratsbeschluss vom 27.03.2012 folgt jedoch immer noch einem alten, für Herbede unpassenden und unzeitgemäßen Modell, das die neueren Erkenntnisse unberücksichtigt lässt. Der Ratsbeschluss gleicht dem von 2003, er ist eine Rolle rückwärts.
Bürgerbegehren 2012
Die Missachtung der Bürger, Geschäftsleute und Immobilieneigentümer im Bereich der Meesmannstraße, mangelnde Transparenz, die Ablehnung der großen Parteien, über wissenschaftlich fundierte Gutachterergebnisse zu diskutieren und die Bevorzugung der Interessen eines einzelnen Anbieters, Edekas, führten im Wesentlichen dazu, dass jetzt erneut ein Bürgerbehren statt findet. Eine offene, ehrliche Diskussion über Ziele, Fakten, Beschlüsse, Gutachterergebnisse usw. hätten dies verhindern können, die eigene Rolle der Wittener Politiker nicht geschwächt, eher im Gegenteil. Politik und Politiker haben dem Vertrauensverlust in Herbede nicht aktiv entgegengewirkt, sondern ihn sogar vertieft. Dazu haben nicht zuletzt auch die Unterstützung der großen Parteien durch "Zeitzeugen", wie beispielsweise durch Vertreter der Industriebetriebe oder der Ärzte im ehemaligen Rathaus (Ärztezentrum) und durch die ausufernde, Emotionen anheizende Werbung des Edeka-Marktes beigetragen.Wenn "die Menschen das Gefühl bekommen, dass Partizipation nur ein Feigenblatt ist, um hinterher sagen zu können: wir haben ja geredet – dann fühlen sich die Bürger zumindest getäuscht, und dann sind auch Eskalationen nicht ausgeschlossen", sagt Dräger.
Es sei festzustellen, dass außerhalb Deutschlands die Bevölkerung viel früher, kontinuierlicher und intensiver eingebunden werde, als das bisher bei uns in Deutschland vielfach üblich sei, sagt Dräger. Als Unversitätsstadt, womit Witten sich in seinem Titel schmückt, hätte dieser Anspruch den Wittener Politikern wohl kaum zu hoch sein dürfen.
Witten hätte die Lehren aus Stuttgart21 eigentlich nicht gebraucht, die Lehren aus dem Bürgerbegehren 2003/2004 hatte die Stadt ja verstanden.
Aber sie hat nicht verstanden, und das kann Stuttgart21 verdeutlichen, dass ein immer aufgeklärteres Bürgertum eine möglichst hohe Transparenz braucht, damit die Demokratie funktionieren kann.
Edith Winkelmann